Die Neuberin
 
Die Neuberin
Das Düsseldorfer "Theater der Klänge" holt sie auf die Bühne zurück. Ein Bombenthema von brisanter Aktualität - nur leider schulmeisterich und allzu selbstverliebt ausführlich zerredet statt knallhart auf den Punkt gebracht. In einem weit über dreistündigen multimedialen Bilderbogen läßt das freie Ensemble, das seit zwölf Jahren historische Themen zeitgemäß aufbereitet (u.a. "Die mechanische Bauhausbühne", "Die Vögel", "Ludus Danielis") das Leben der Neuberin Revue passieren. Dazwischen gibt’s Lektionen in Schauspielkunst und Theatergeschichte - Tanzeinlagen und Projektionen, Ausschnitte aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten" und von Bach, der der Neuberin seine Dienste versagte, Zu Beginn und bei ihrem Begräbnis erklingt sein Choral "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist das Menschenleben" - wohl wahr, aber doch arg verschroben. (Oder waren diese Kammerchöre etwa nur ironisch gemeint ?
Szene aus der neusten Produktion vom Theater der Klänge deutschen Prinzipalin" (so der Untertitel) bewundernswert wandlungs-fähig. Regisseur Jörg U. Lensing, der mit Clemente Fernandez Texte und Musik bearbeitete, gibt den gönnerhaften Grafen angemessen jovial, Matthias Weiland Herrn Neuber und Herr Reich-Ranicki (in einer winzigen Episode) mit Pfiff. Die Ironie; das Premierenpublikum fühlte sich am besten unterhalten von den virtuosen commedia dell'arte-Harlekinaden Clemente Fernandez als Neuberin-Gegenspieler Josef- Ferdinand Müller.

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Marieluise Jeitschko
Theater pur, Essen
 
 
Pralles Theaterleben
Am Anfang stahl - wie so oft ein grausamer Vater. Der will ein züchtiges Töchterlein und erreicht doch bloß eines. Das Kind verläßt sein Haus, gerät unters fahrende Volk. Doch dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Denn Friederike Carolin Neuber wird sich zur wichtigsten Figur der deutschen Theaterlandschaft Im frühen 18. Jahrhundert entwickeln. Und später als Neuberin scheitern an einer Epoche, in der Ihre Ideale erst allmählich begriffen werden. Das Düsseldorfer "Theater der Klänge, jüngst zu Gast im den Freien Kammerspielen, greift erneut eine theaterhistorisch bedeutsame Epoche auf. Nach Rekonstruktionen der "Bauhausbühne" oder der "Barocken Maskenbühne" nimmt die detailversessene Truppe um Regisseur Jörg U. Lensing sich diesmal stärker als je zuvor eine einzelne Figur vor. Und arbeitet stärker erzählerisch, ja dramatischer.
Lensing und sein Co-Autor Clemente Fernandez - beide auch auf der Bühne - haben die Biographie der Neuberin in zwölf Kapitel zerlegt, die durch kurze Videosequenzen und abstrahierende Tanzszenen gegliedert sind. Die offene nackte Bühne ist historischen Vorbildern nachempfunden ebenso die Kostümierung der Protagonisten. Eine Stimme aus dem Off liest zwischendrin Selbstverständigungstexte aus der Theatergeschichte: Aristoteles läßt sich vernehmen, auch Gottsched, der auch in den Spielszenen eine entscheidende Rolle hat.
Das alles wäre eine fleißig und penibel erarbeitete Praxisstunde für Theaterwissenschafts-Oberseminaristen, hätte das "Theater der Klänge" nicht viel Energie zu diese Spielszenen verwandt. So gibt es pralles (Theater) Leben, nicht zufällig fühlt man sich hier und da an Ariane Minouchkines lilmische Moliere-Hommage erinnert.Die drallen Hanswurstinden des zeitgenössischen Volkstheaters sind dank teilweise hervorragender Schauspieler ebensowenig trockene Theorie wie viele kleine Porträts, die Lensing/ Fernandez in ihr Libretto eingestreut haben. Doch bleiben historische Rekonstruktion und Spiel oft zu disparat nebeneinander. Warum die Neuberin so für dramatische Werk streitet, erschließt sich nicht aus dem szenischen Material.

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Josef Schloßmacher
Kölner Stadt-Anzeiger
 
 
Wandersleben für das Theater
Sie war die bekannteste Theaterdirektorin ihrer Zeit: die sächsische Bürgerstochter Friederike Caroline Neuber. Acht Mitglieder von " Theater der Klänge" erwiesen der "Neuberin" im Sartiricon-Theater mit einer Szenen-Collage ihre Reverenz.
1697 im Vogtland geboren, zog sie über 30 Jahre als fahrende Komödiantin durchs Land. Ein hartes Leben. Denn im Barock galten die Wanderschauspieler bei den Bürgern als Gesindel. Ihr Leben lang bemühte sich die Neuberin mit ihrer besonderen Auffassung eines klassisch-französischen, "natürlichen" Theaterspiels um Anerkennung ihrer Zunft.
In 15 Stationen zeichnen die Schauspieler den Lebensweg von der agilen, lebenshungrigen Schauspielschülerin zur despotischen, von der Vision eines deutschen bürgerlichen Schauspiels besessenen Actrice nach. Am Beginn ihrer Karriere steht die Flucht vor dem tyrannischen Vater zum Prinzipal Spiegelberg. Mit 27 Jahren hat sie eine eigene Truppe. Ein langes Wanderleben beginnt.
Bei dem Düsseldorfer Ensemble, allen voran Kerstin Hörner als Neuberin, ist viel zu spüren von der Siellust dieser frühen Schauspielgruppe. Regisseur Jörg U. Lensing macht die hohen Anforderungen, die ein Komödiant damals schon erfüllen mußte, durch eine Staffelung der szenischen und musikalischen Mittel transparent. In historischen Kostümen tanzen, deklamieren, spielen sie zu Vivaldi Klängen, Mittendrin die Neuberin, die den kargen Bühnenraum auf und abschreitet und dabei ihren Mann ( Matthias Weiland) und das Ensemble barsch dirigiert. Zeitgenossen kommn zu Wort:Lessing, Bach oder Friederikes Gönner Graf Brühl ( Jörg U. Lensing). Auch ihr Konkurrent Koch ( Clemente Fernandez) erscheint und sucht mit derbem Spaß sein Publikum.
Nach vier Stunden ist das Theater auf dem Theater vorbei, die Neuberin allein mit ihrem Spiel. "Schachmatt", sagt Brühl lakonisch. Sichtlich ermattet verläßt auch der Zuschauer die Spielstätte.

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Kristina Struck
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
 
 
Als wär’s ein Stück Moliere
Weiber in die Universität? Da könnten wir ja gleich die Pferde in die Kirche lassen!" Der Vater der Friederike Caroline Weißenborm war ein Mann seiner Zeit - seine Tochter dagegen der ihren voraus. Im 18. Jahrhundert, als das Theater ein Ort blutrünstiger Historien und obszöner Harlekinaden war, träumte sie von einem deutschen Nationaltheater hoher Ethik nach dem klassizistisch-französischen Vorbild eines Racine. Das eben der moralischen Prinzipalin, der ‚"Neuberin", inszenierte das "Theater der Klänge", aus der freien Düsseldorfer Szene, in Zusammenarbeit mit FH Dortmund und Folkwang Essen im Tanzhaus NRW als allzu ambitioniertes, multimediales Spiel.
Die Figuren in historischen Kostümen könnten beinahe von Moliere sein: der schrullige Vater mit Schlafmütze, der lächerlich spillerige Ehemann Johann, der wichtigtuerische Theatertheoretiker Gottsched oder die überkandidelte Schauspielerin Haak. Die Neuberin der Kerstin Hörner ist ein schönes, vitales Ding, deren Entwicklung zur ' souveränen, später despotischen Prinzipalin aber nur die Maske vollzieht.
Aufstieg und Fall werden nacherzählt: Anschluß an die Spiegelbergschen Komödianten, Disput u.a. mit dem: gefeierten Hanswurst Müller (Clemente Fernandez als exzellenter Vulgär-Pantomime), Kampf um Spielerlaubnis in Leipzig, Intrigen. Jörg Lensing (auch Regie) und Fernandez haben das hervorragende Textbuch in alter, metaphorischer Sprache nach historischen Quellen verfaßt. Gesang und sensibles Spiel des Cellisten Tobias Schlierf fügen sich prägnant ein.
Doch die Produktion will zu hoch hinaus, die Dramaturgie scheitert an ihrem Anspruch, Projektionen strukturieren das Szenische überflüssig in Monate, über deren etymologischen Sinn eine Stimme aus dem Off belehrt, Animierte Videos erteilen Lektionen in barockem Theater und Rahmenbühne; dazu theatertheoretische Texte etwa von Diderot und Gottsched. Außerdem Sequenzen, die an deutschen Ausdruckstanz erinnern, als Zwischenspiele, begleitet von elektro-akustischer Collage, die natürlich auch auf Vivaldis "Vier Jahreszeiten" basiert.
Bei fast vier Stunden zerfällt der Spannungsbogen nach der Pause. Das Spiel schrumpft unter der Last des kopflastigen, angestrengten medialen Korsetts zur Illustration einer Biographie.

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Bettina Trowborst
Westdeutsche Zeitung
 
 
Bach schlägt einen Auftrag aus
Friederike Caroline Neuber, die sich selbstbewußt "die Neuberin" nannte, war eine berühmte sächsische Schauspielerin und Wandertheater-Prinzipalin des 18. Jahrhunderts – Zeitgenossin von Bach, Gottsched und Lessing, Ihre authentische Geschichte lieferte die Vorlage für ein wuchtiges Theater-Ereignis, das jetzt im Düsseldorfer Tanzhaus NRW Premiere hatte. In einem dreieinhalbstündigen Marathon werden Stationen eines sehr modern anmutenden Kampfes um Kunst und Karriere, Beruf und Berufung nachgespielt. Triumph und Scheitern dieser außerordentlichen Frau (1697-1760) werden wie in einem barocken Welttheater beschworen, pathetisch und sinnlich zugleich.
In inhaltsschweren Dialogen wird der historische Umbruch vom Volkstheater auf den Märkten und Straßen zum institutionalisierten höfischen und bürgerlichen Theater thematisiert. Angesprochen wird damit auch der Zwiespalt: zwischen der Bühne, die sich als moralische Lehranstalt versteht, und derjenigen, die sinnenfroher Massenunterhaltung dient. Der Bezug auf die heute mit den Theatern konkurrierenden Musical- und Kinopaläste ist offensichtlich. Zugleich entfaltet sich in Off-Kommentaren, unterstützt von Projektionen auf den Vorhang im Bühnenhintergrund, eine kurze Geschichte des Theaters: von den Griechen bis zu Antonin Artaud und dem Bauhaus.
An jenem Konflikt hatte sich schon die Neuberin abgemüht, welche die Hanswurstiade von der Bühne verbannen wollte. Doch was ist wesentlich fürs Theater? Die Anarchie des regellosen, sinnlichen, illusionären Spiels oder Erziehung und Läuterung durch eine neue Ästhetik für einen neuen Menschen?
Das "Theater der Klänge", ein unabhängiges Düsseldorfer Schauspielensemble ohne eigene Spielstätte, trat erstmals 1987 mit der Inszenierung "Die mechanische Bauhausbühne" auf. Spätere Aufführungen galten der "Barocken Maskenbühne", "Ludus Danielis" und den "Vögeln" von Aristophanes.
Im Text der Ensemblemitglieder Jörg U. Lensing und Clemente Fernandez mischt sich barocker Wohlklang sperrig mit Alltagssprache. Das Unterfangen soll eine Reflexion des eigenen Tuns sein, soll den empfundenen Zwiespalt in der Schwebe halten. So will "Die Neuberin" keine reine Unterhaltung sein – und unterhält auch nicht. Das Drama will ausdrücklich kein Lehrstück sein – und setzt auch alles daran, kein Seminar in deutscher Theatergeschichte zu werden. Prächtige Kostüme (entworfen von Caterina Di Fiore), Ausdruckstanz (Jacqueline Fischer choreographierte für sich und ihren Partner Mario Kubitzka kurze widerspenstige Zwischenstücke), Video- Projektionen, aufwendige Lichtführung und viele barocke Musik- inspielungen ergänzen, kommentieren, skandieren das Geschehen auf der weiten Bühne, Doch alles zusammen führt zu einem zerdehnten Theater- Manifest, das sowohl die Sinne als auch den Verstand überfordert.
Gegen die Fülle des Materials kämpfte ein beeindruckend spielintensives Ensemble vergeblich an. In Mehrfachrollen überzeugten vor allem die Autoren selbst. Sie scheinen am stärksten motiviert gewesen zu sein. Kerstin Hörner als Neuberin war beeindruckend. Auch sie hatte letztlich aber Mühe, ihr großes Pensum mit der Kraft durchzuhalten, die Thema und Botschaft des Stückes verlangen. Theoretischer Ansatz und theaterpraktische Umsetzung passen in dem ambitionierten Projekt leider nicht zusammen. Für künftige Aufführungen sollte auf jeden Fall gestrafft werden.
In einer Szene fordert die Neuberin Johann Sebastian Bach auf, Musik für ihr Theater zu schreiben. Er lehnt ab und schreibt weiter seine Musik. Er habe es leichter, da er ja kein zahlendes Publikum brauche, wirft sie ihm böse vor. Für ihre eigene Aufführung hat das "Theater der Klänge" Werke Bachs durch den Synthesizer gejagt und zur Bühnenmusik umfunktioniert. Ein Zugeständnis an genau den Unterhaltungswert, den die Truppe doch in Frage stellen will.
Beim großen Thomaskantor ist es bezeichnenderweise genau umgekehrt: Die Beschränkung auf sein ureigenstes Feld steht gerade nicht im Gegensatz zur unendlichen sinnlichen Fülle, die seine Werke eröffnen.

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Joseph Heinrichs
Rheinische Post
 
 
Generationenvertrackt
Jörg U. Lensing, der Leiter des Düsseldorfer Theaters der Klänge, hat der Titelfigur seines jüngsten Stücks "Die Neuberin" mit dem Untertitel "Die Passion einer deutschen Prinzipalin" einen schönen Spruch in den Mund gelegt: "Neue Wege findet man nicht durch Rückwärtsschauen." Für Lensings Theater gilt dieser Spruch freilich nur sehr bedingt. In den zwölf Jahren seit seiner Gründung hat das Theater der Klänge fast immer nur retrospektiv gearbeitet, Es hat "Die barocke Maskenbühne" wiederauferstehen lassen, ist mit einem "Ludus Danielis" ins Mittelalter zurückgetaucht, hat der deutschen November-Revolution von 1918 nachgespürt und gleich mehrfach Tanzstücke des Bauhauses rekonstruiert.
Auch Lensings "Neuberin", im Düsseldorfer Tanzhaus uraufgeführt und nach einer kleinen Aufführungsserie dort ins Kölner Theater im, Bauturm und ins, Essener Theater Satiricon weiterwandernd, ist in mehrfacher Hinsicht eine Rückschau. Das Stück erzählt nicht nur das Leben der historischen Theaterfrau Friederike Caroline Neuber, die sich in der ersten Hälfte des 18, Jahrhunderts, lange vor Goethe und Schiller, um die Schaffung eines deutschen Nationaltheaters verdient machte und — weniger verdienstvoll – den Hanswurst von der Bühne zu verbannen suchte, Es erzählt sie schlicht und gradlinig entlang ihrer Biographie, wie sie jedes bessere Theaterlexikon festhält. Es bemüht sich auch, das Theater aus dem Geist jener Jahre neu zu erfinden. Doch landet es mit seiner Mischung aus pathetisch hohem Ton, Hanswurstiade und gottschedscher Gelehrsamkeit sowie etwas musikalischem und tänzerischem Rankenwerk rasch in der Volkshochschule.
Langatmige Spielszenen, in denen sich die Erfahrung gleich mehrfach wiederholt, daß die jeweils jüngere Generation ohne Dankbarkeit für die ältere ihre eigenen Wege geht, sind verbunden durch Texte zur Theaterästhetik von Aristoteles, Gottsched, Diderot und Artaud, Es sind verbale Abrisse der Theatergeschichte von der Antike bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Bühnenformen, dazu werden dilettiantische, von Jacqueline Fischer choreographierte Tanzduos absolviert, in denen sich die Erfahrung der Truppe mit den Bauhaustänzen von, Schlemmer und anderen zu, spiegeln scheint. Ein einzelner, Muskus (Tobias Schlerf) unterstreicht Dialoge durch Schläge auf ein Holzbrett wie im fernöstlichen Theater, singt Partien aus Bachschen Motetten und kratzt Fetzen aus Bachschen Suiten auf einem Cello.
Das Stück ist reich an bedenkenswerten ästhetischen Sentenzen und historischen Parallelen, zieht aber nie die Konsequenzen aus ihnen. Daß die Neuberin bei ihrem Gastspiel im Hamburger Opernhaus auch daran gescheitert ist, daß sie kein Musiktheater, sondern "Sprechtheater mit Musik" gemacht hat, hindert den studierten Komponisten Lensing (der zusammen mit Thomas Neuhaus etwas Bach und Vivaldi zu musikalischen Ornamenten verarbeitet) nicht daran, es ihr gleichzutun. Für falsche Bühnentöne legt Autor Lensing der Theaterprinzipalin das Wort von den "Tränen aus dem Schauspielerhirn" in den Mund; als Regisseur läßt er eine Menge solcher Krokodilstränen fließen. Und daß "diese langweiligen Deklamationen" theatralisch zu nichts führen, weiß zwar die Neuberin, nicht aber ihr theatralischer Nachfahr.
Tatsächlich ermüdet die Textdeklamation von der dritten Stunde an nicht nur das Publikum, sondern auch die Darsteller (Kerstin Hörner als Neuberin, in weiteren Rollen Clemente Fernandez, Matthias Weiland und Francesco Russo) so offensichtlich, daß sie sich zunehmend häufiger verhaspeln; nur Lensing selbst, als Bach, Gottsched und höfischer Kulturpapst Brühl, zelebriert seine eigene Gottähnlichkeit fehlerlos und ganz ohne Ironie. Für die wenigen theatralisch ergiebigeren Momente sorgen ausgerechnet die Szenen mit dem von der Neuberin bekämpften komödiantischen Hanswurst: Oasen der Sinnlichkeit in der Öde von fast vier Stunden Schulfunk.

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Jochen Schmidt
Frankfurter Allgemeine Zeitung
 
 
Mit den Augen eines Komponisten
Am Ende steht eine verbitterte Prinzipalin vor ihren Zuschauern: Der Kampf um eine feste Spielstätte, um literarisch anspruchsvolle Theatertexte und um eine neue Darstellungsästhetik ist gescheitert. Das neue Theater, für das die Neuberin beim Publikum, bei den fürstlichen Mäzenen, bei Musikern, Autoren und Schauspielerkollegen stritt, hat sie nicht durchsetzen können. Das Theater der Klänge hat aus dieser theaterhistorischen Möglichkeit einen spannenden, hoch komplexen gut dreistündigen Abend gemacht.
Seit fast zwölf Jahren besteht dieses freie Theater nun. Junge Absolventen der Bereiche Musik, Tanz und Schauspiel schlossen sich damals zusammen, um gemeinsam eine eigene künstlerische Formensprache zu entwickeln. Für den Leiter des Theaters, Jörg U, Lensing, dem als Komponist eher die Arbeit im stillen Kämmerlein vorbestimmt schien, ist noch heute der tägliche Austausch mit Künstlern unterschiedlicher Sparten der entscheidende Vorteil dieser Arbeitsweise. Dabei ging und geht es dem Ensemble nicht darum, literarische Stücke aus dem gängigen Repertoire des Sprechtheaters lediglich mit Musik und Tanz anzureichern. Das gleichberechtigte Mitgestalten aller Gattungen wurde zum Prinzip.
Diesem Ansatz folgend suchte man nach Vorläufern in der Theatergeschichte, nach Formen, die Theater, Musik und Tanz miteinander verbanden, und fand sie im Bauhaus der Zwanziger Jahre. "Die mechanische Bauhausbühne" hieß 1987 die erste Produktion. Seitdem gibt es jährlich eine Neuproduktion. Mehr ist finanziell nicht machbar und wird auch künstlerisch nicht für sinnvoll erachtet, Die Probenzeiten sind lang, dem kollektiven Arbeitsverständnis folgend probiert zunächst jeder jede Rolle. Die endgültige Besetzung wird erst sehr spät im Probenverlauf festgelegt.
Mit der "Barocken Maskenbühne‘" (1988/89) ging das Ensemble zurück auf eine vorliterarische Theaterform, in der die ganze Bandbreite von Schau- und Maskenspiel, höfischem Tanz und Musik vertreten war. Nicht der musealen Rekonstruktion von Theatergeschichte, wie von Zuschauern mitunter vermutet wird, sondern der Neuverwendung ästhetischer Mittel gilt das Interesse. "Für einen Komponisten", so erinnert Lensing, "ist es vollkommen normal, sich mit Beethoven, Bach, Mozart und anderen zu beschäftigen. Das ist zwar alte Musik, aber es sind ja auch Modelle des Komponierens."
Wie sehr das Theater der Klänge in diesen Kategorien denkt, zeigte sich auch an der folgenden Produktion, die mit Arnold Weskers Stück "Die Küche" 1990 eine konventionelle Dramenvorlage hatte, in der jedoch die 24 beteiligten Schauspieler und Schauspielerinnen eine Orchestrierung der Sprache möglich machten. Es folgten so unterschiedliche Produktionen wie "November 1918-1998 — Revolution in Deutschland", "Figur und Klang im Raum", das mittelalterliche Mysterienspiel "Ludus Danielis" und "Die Vögel" von Aristophanes.
Mit der "Neuberin‘", der "Passion einer deutschen Prinzipalin", so der Untertitel, greift das Theater der Klänge jetzt wieder einen theatergeschichtlichen Stoff auf. Etliche der Szenen werden zudem mit theaterhistorischen Statements von Aristoteles bis Antonin Artaud eingeleitet. Die Gefahr besteht, daß so die Rezeption in eine falsche Richtung gelenkt wird und die Zuschauer nun ein belebtes Theaterkompendium erwarten. Tatsächlich har dieses Verfahren dem Theater der Klänge den Vorwurf des Didaktischen eingetragen. Aber mindestens ein Drittel dieses Stückes ist freie Erfindung. Jörg L. Lensing, der zusammen mit Clemente Fernandez auch das Buch verfaßt hat, sieht in dem historischen Theaterstoff vor allem Material: "Ich möchte das Recht haben, mir eine historische Figur nehmen zu dürfen, wie zum Beispiel die Neuberin, und zu sagen, die hat in einer Situation gesteckt, die ich persönlich glaube nachvollziehen zu können, weil ich in einer ähnlichen Situation stecke. Wir als Theater der Klänge stecken in einer parallelen Situation. Deshalb ist dieses Stück zu 50 Prozent auch ein Stück über das Theater der Klänge und nicht nur über die Neuberin."
Noch immer ist das Theater der Klänge auf der Suche nach einem eigenen Haus. Der finanzielle Rahmen ist nicht langfristig gesichert. Seit acht Jahren verfügt das Theater immerhin über eigene Verwaltungs- und Lagerräume und eine Probebühne, die mit Hilfe eines jährlichen Mietkostenzuschusses der Landeshauptstadt Düsseldorf angemietet werden konnten. Aufführungen können dort aber nicht stattfinden. Daneben erhält das Theater eine Ensembleförderung des Landes und in wechselnder Höhe Produktionszuschüsse der Stadt. Die werden jedes Jahr neu bestimmt; jeder Flop kann zu einer deutlichen Reduzierung führen und so lastet ein enormer Erfolgsdruck auf den einzelnen Produktionen. Neben einem Kernensemble von Miteliedern, die wie etwa Kerstin Hörner, Jacqueline Fischer, Francesco Russo und die Kostümbildnerin Caterina Di Fiore über lange Jahre hindurch die Arbeit prägen, wird mit Gästen gearbeitet. Dabei hat Lensing in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, daß "die neuen Mitarbeiter, die hinzukommen, nicht mehr zwischen freier und kommunaler Theaterarbeit unterscheiden. Für sie ist es ein Engagement mehr, Das Anbinden an ein Ensemble seht heute nicht mehr so leicht wie vor zehn Jahren." Dadurch wird es auch immer schwieriger, Produktionen längerfristig im Repertoire zu halten. Notwendige Umbesetzungen sind mit zusätzlichen Proben verbunden und verteuern die Gast spiele. Auch hier beobachtet Lensing seit Anfang der 90er Jahre die Tendenz, daß es eine Preisdiskussion gibt. Etwa 30 bis 50 Vorstellungen gibt das Theater im Jahr, davon die Hälfte mit der jeweiligen Neuproduktion.
Auf den ersten Blick scheinen in der "Neuberin" Tanz, Videoproduktionen, Spielszenen und Musik auseinanderzufallen. Doch dem Werk liest ein sehr genau durchkomponierter inhaltlicher Formenplan zugrunde. Zusammengehalten durch die Abfolge der Monate eines Jahres verweist das Zyklische darauf, daß es sich um kein Einzelschicksal gehandelt hat Immer wieder werden Texte und Situationen variiert wiederholt: "Das ist wie in der Musik; man macht eine Reprise, das ist die Wiederholung der Exposition, aber diese Reprise hat zumindest eine andere Harmonik. Das ist in diesen Texten genauso. Die Neuberin hat zwar exakt die gleiche Probensituation, wie sie vorher einmal mit der Haak-Hoffmann bestand, aber sie erweitert das Haak- Hoffmannsche Wissen ja enorm." Lensings Text ist wie eine Partitur, Man muß allerdings sehr genau hinhören, um etwa zu verfolgen, wie in dem Gespräch der Neuberin mit Johann Sebastian Bach klangliche Akzente durch gehäufte Verwendung der Töne B-A-C-H gesetzt wer den. Das Düsseldorfer Premierenpublikum spielte freilich auf seine Weise mit: Gut 250 Jahre nach der Verbannung des Hanswursts vom Theater durch die Neuberin goutierte es mit besonderem Vergnügen die komischen Passagen ihrer volkstümlichen Gegenspieler.

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Lutz Hennrich
Die deutsche Bühne
 
 
Aufmüpfige Tochter mit " ungesunder Lust" an der Kunst
Das Düsseldorfer "Theater der Klänge" zeigt am heutigen Sonntag seine multimediale Bilderfolge
"Die Neuberin -Die Passion einer deutschen Prinzipalin" zum letzten mal im "Tanzhaus NRW die Werktstatt". Weitere Aufführungen der aufwendigen, fast vierstündigen "Theatergeschichte" um die aufmüpfige, aufgeklärte Schauspielerin und Theaterleiterin des 18. Jahrhunderts sind bisher vorgesehen im Essener Satiricon Theater am 29, und 30. Januar, in den Freien Kammerspielen Köln vom 5. bis 7. Februar und im März oder April im Schauspielhaus Düsseldorf.
Die freie Gruppe gehört – wie die Neuberin - zu den Idealisten ihrer Zunft und läßt sich ihre Formulierung eines elften Gebots ostentativ auf der Zunge zergehen: "Ehret die Künstler!" Das schleuderte die aufmüpfige Tochter eines Zwickauer Notars ihrem Tyrannischen Vater (angeblich) ins Gesicht, als er wieder einmal über ihre "ungesunde Lust an künstlerischem Gehabe" maulte. Er hielt sie wie in einem Gefängnis, brachte ihr Latein und Französisch bei - aber nur für den Hausgebrauch. Denn Frauen hätten auf der Universität so wenig verloren wie Pferde in der Kirche.Kein Wunder, daß Friederike Caroline sich mit ihrem heimlich Verlobten Johann Neuber aus dem Staub machte - und natürlich zum Theater ging. Sie wurde eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen des 18, Jahrhunderts und schrieb als Reformerin ein Kapitel Theatergeschichte, das leider tragisch endete; 1860 starb sie verarmt und geächtet. Ihre Mühen, statt ordinärer Possen literarisch ertvolle Stücke ins deutsche Theater zu holen, blieben auf der Strecke. Den Hanswurst hatte sie zwar 1737 demonstrativ von der Bühne verbannt - aber er ist einfach nicht tot zu kriegen. Bei der Düsseldorfer Premiere der "Neuberin" applaudierte das Publikum den virtuosen Harlekinaden von Clemente Fernandez am meisten. Kerstin Hörner meistert die Titelrolle bewunderswert wandlungsfähig. Regisseur Jörg U. Lensing, der mit Clemente Fernandez Texte und Musik bearbeitete, gibt den gönnerhaften Grafen angemessen jovial, Matthias Weiland Herrn Neuber und Herrn Reich-Ranicki (in einer winzigen Episode) mit Piff. Das "Theater der Klänge" hat ein Bombenthema von brisanter Aktualität entdeckt - aber leider mit viel Mühe und Selbstverliebtheit schulmeisterlich zerredet durch endlose Lektionen in Schauspielkunst und Theatergeschichte, Tanzeinlagen und Cello-Etüden, Bessere Stücke braucht das deutsche Theater, Wohl wahr – damals wie heute.

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Welt am Sonntag
 
 
Mit moralischen Anspruch
Ein fester Theaterbau — dafür kämpfte "die Neuberin" im 18. Jahrhundert, und das ist der Wunsch des "Theaters der Klänge", einer freien Düsseldorfer Gruppe, die "Die Neuberin" als Theatercollage auf die Bühne bringt. Die Premiere fand im Tanzhaus NRW statt.
Friederike Caroline Neuber, genannt "die Neuberin", machte Anfang des 18. Jahrhunderts zunächst als Schauspielerin Karriere. Als Prinzipalin - also als Leiterin einer eigenen Truppe — setzte sie sich für ein deutsches Theater mit moralischem Anspruch ein. Eine Zeitlang war sie erfolgreich, gründete vier Theater in Leipzig und brachte Lessings Erstlingswerk auf die Bühne. Doch am Ende unterlag sie der männlichen Konkurrenz im intriganten 18. Jahrhundert.
Unter der Regie von J.U.Lensing (Buch mit Clemente Fernandez) entstand in Düsseldorf jedoch kein Portrait, sondern eine großangelegte theaterhistorische Collage. Nicht das Leben der Neuberin steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern ihr Werdegang als Projektionsfläche für die Schwierigkeiten des Schauspiels bis heute.
Schauspielerisch werden Szenen aus dem Berufsleben der Neuberin umgesetzt. Kerstin Hörner spielt sie zunächst selbstbewußt, später despotisch, immer jedoch als Profi. Es gibt keine leidenschaftlichen Ausfälle, stets handelt sie gesteuert von Verstand und Gewissen. Auch ihre Beziehung zu Johann Neuber (Matthias Weiland gibt ihn schüchtern und weichlich) bleibt seltsam flach. Als Gegenspieler der Neuberin bringt Clemente Fernandez als Vagant Müller pralle Comedy unter der Gürtellinie.
Diese Sequenzen werden unterbrochen von Tanz, Gesang, Musik und Videoprojektionen. Strukturiert wird die dreieinhalbstündige Produktion durch Definitionen der zwölf Monate von März bis Februar. Es werden theaterhistorische Abhandlungen von Aristoteles bis zum 20, Jahrhunderts im Off verlesen. Musik von Bach und Vivaldi wird vom Band eingespielt oder live auf der Bühne gesungen bzw. gespielt. Tobias Schierf überzeugt als Cellist und Sänger mit unprätentiösen und sicheren Interpretation. In den zwölf Tanzstücken von Jacqueline Fischer und Mario Kubitza wird die emotionale Seite der Neuberin vermittelt.
Der Wechsel zwischen den Ebenen ist gut geeignet, unterschiedliche Bedeutungsebenen zu verknüpfen und verschiedene Sinne beim Zuschauer anzusprechen. Zudem findet er seine Entsprechung im Barock- heater. Doch leider wird das Konzept durch die Textlastigkeit erdrückt. Es ist sind nicht nur die schauspieltheoretischen Abhandlungen, die dem Zuschauer zugemutet werden, sondern auch in den Szenen über die Neuberin geht es immer wieder um das Schauspiel, die Schauspieler und die Schauspielerei. Etwas weniger wäre mehr gewesen.

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Ursula Pfennig
Westfälicher Anzeiger
 
 
Eine Prinzipalin
Mit der Aufführung "Die Neuberin – Passion einer deutschen Prinzipalin" spielte das "Theater der Klänge" Düsseldorf im leider nicht ausverkauften Zwickauer Gewandhaus fast Theater in eigener Sache. Neben der Biografie der Schauspielerin und Reformatorin des Deutschen Theaters stand die hochaktuelle Frage, ob das Theater dem Geschmack des zahlenden Publikums Rechnung tragen oder entsprechend seiner künstlerischen Aufgabe innovatives, auch experimentelles Theater spielen sollte, im Mittelpunkt.
Friderike Caroline Weißenborn (Kerstin Hörner), 1697 in Reichenbach geboren und in Zwickau aufgewachsen, entflieht mit dem Freund und späteren Gatten Johann Neuber (Matthias Weiland) in die Freiheit und die Welt fahrender Komödianten. Doch sie, deren Begabung als Schauspielerin bald erkannt und gewürdigt wird, wendet sich vehement gegen die Stücke und die Spielweise ihrer Zeit, bei der Hanswurst und Klamauk das Publikum ins Theater und das Geld in die Kassen brachten. Nach ihrer Überzeugung sollte künstlerische Qualität die absolute Priorität vor dem Gelderwerb haben: Ihr Traum war ein deutsches Nationaltheater von hohem künstlerischen Anspruch. Im Verlauf ihres dreiundsechzigjährigen Lebens stieg sie selbst zur Prinzipalin auf. War über Jahrzehnte erfolgreich, umgeben von guten Freunden und geachtet bis in die oberen gesellschaftlichen Kreise. Mit Hilfe ihres Mannes setzt sie ihre Prinzipien weitgehend durch, erreicht: wesentliche Verbesserungen des Theaterspiels, setzt sich für feste Spielstätten ein, für hochwertige deutsche Textbücher, für eine verständliche Sprache in den Stücken, für gute Bühnenmusik. Doch sie scheitert letztlich an der Hegemonie der männlichen Prinzipale, an Intrigien und an eigenen Fehlern.
Die Darstellung der Neuberin erfolgte nicht idealisiert, sondern mit allen Stärken und menschlichen Schwächen dieser bemerkenswerten Frau. Das gab dem Stück Glaubwürdigkeit. Durch die Wiederholung früherer Textpassagen wurde ein deutlicher Rückbezug auf die charakterlichen Veränderungen der alternden Prinzipalin hergestellt.
Die Umsetzung des umfangreichen und nicht immer einfachen Stoffes gelang dem Ensemble des "Theaters der Klänge" aus Düsseldorf in bemerkenswerter Weise. Besonders die Rolle der Caroline vom jungen Mädchen bis zur alternden Prinzipalin wurde von Kerstin Hörner sehr eindrucksvoll gemeistert.
Von der Ausstattung her einfach gehalten, doch mit schönen Kostümen und einer dem Heutigen angepaßten, leicht verständlichen Sprache, gestaltete sich das Schauspiel zu einem Stück erlebbarer Theatergeschichte.

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Q.M.
Vogtländer Anzeiger
 
 
So bunt das Bild, so wenig plastisch war es
Weil das mittägliche Himmelsspektakel am Mittwoch ohne die herbeigeredeten Endzeit-Katastrophen auskam, konnte die. Wandertruppe vom "Theater der Klänge" aus Düsseldorf. Am Abend die Bühne des Nationaltheaters erwartungsgemäß für "Die Neuberin" entfalten.
Angekündigt hatte sich das Gastspiel des 1987 gegründeten Theaters, das bisher vor allem mit Projekten zu Bauhaus-Musik und - Tanz auf sich aufmerksam machte, schon vor Tagen. Nach zwei Abenden mit der "kleinen" Fassung ihres aktuellen Programms im Gothaer Ekhof-Theater gab es in Weimar eine nächtliche Lesung mit Absinthbowle im gläsernen Bau des studentischen Kulturstadt-Projekts "worldhaus TV".
Trotzdem hielt sich der Andrang zur "Passion einer deutschen Prinzipalin" im Großen Haus letztlich in überschaubaren Grenzen. Die Begeisterung im Parkett und auf den Rängen auch. Offenbar waren die 24 Szenen von Jörg U. Lensing und Clemente Fernandez über die große Reformerin doch nicht aus dem Stoff gemacht, aus dem im Theater gemeinhin die Träume sind und die Zuschauer zu fesseln vermögen.
Was in der intimen Umgebung einer kleinen Barockbühne wie im Gothaer Schloss zusätzlich so etwas wie Authentizität gewinnen mag — der zeitbezogene Streit um neue Theaterformen - nimmt sich auf der großen Bühne des gesichtslosen Weimarer Theaters über weite Teile doch nur verloren aus. Daran können auch aufgesetzte technische Spielereien und kurze getanzte Zwischenstücke a la Folkwang nicht viel ändern.
Dabei haben Triumph und Scheitern dieser großen Frau, die den deutschen Komödianten den "Hans Wurst" austrieb und Größen wie Gottsched, Lessing und Bach als Zeitgenossen hatte, durchaus dramatische Qualitäten.
Kerstin Hörner in der Titelrolle ist sichtlich bemüht, ihnen angemessen Ausdruck zu geben. Doch mit ihren Proklamationen zur Schauspielkunst und über das Theater als moralische Anstalt schrammt sie allzu oft nur hart am akademischen Oberseminar für angehende Experten vorbei. Die Figuren an ihrer Seite sind auf dem gut dreistündigen Weg durch die künstlerischen Verästelungen des frühen 18. Jahrhunderts allesamt mehr nur willkommene Stichwortgeber. Zusammen mit den eingespielten Klängen in gefälligem Barockverschnitt und den laienhaften Gesängen von Tobias Schlierf machen sie das gängige Bild von der Neuberin und ihrer Zeit zwar bunter, aber nicht unbedingt plastischer.

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Thomas Bickelhaupt
TLZ
 
 
Theater der Klänge hat "die Neuberin" zum Leben erweckt
Als "die Neuberin" ging sie in die Theatergeschichte ein: Friederike Caroline Weissenborn, Tochter eines Zwickauer Notars, ‚der ihre "ungesunde Lust am künstlerischen Gehabe" und ihren Wissensdurst monierte "Ehret die Künstler!" soll sie als elftes Gebot im Zorn formuliert haben — und machte ernst. Mit dem jungen Juristen Johann Neuber schloß sie sich einer Wandertruppe an, mit dem Literatur-Theoretiker Gottsched versuchten die beiden, "besseren Geschmack" aufs deutsche Theater zubringen durch eine Sprachkunst und -kultur. Aber die Reform der Prinzipalin scheiterte, nicht zuletzt am Geld. Als der Neuberschen Truppe während einer Vorstellung die Kasse gestohlen wurde, war das "ein wirkliches Problem", und bald kamen-andere dazu, zum Beispiel das Alter. Verarmt und vergessen starb "die Neuberin" 1860,
Das Düsseldorfer "Theater der Klänge" hat sie zum Leben erweckt und einen fast vierstündigen multimedialen Bilderbogen um ihre Biographie gerankt. Kerstin Hörner meistert die Titelrolle bewundernswert wandlungsfähig. Regisseur Jörg U. Lensing, der mit Clemente Fernandez Texte und Musik bearbeitete, gibt den gönnerhaften Grafen angemessen jovial, Matthias Weiland Herrn Neuber und Herrn Reich-Ranicki (in einer Episode) mit Pfiff, Ironischerweise kommt auch heute noch der komische Hanswurst (Clemente Fernandez als Rivale der Neuberin), den die Prinzipalin 1737 öffentlich aus dem Theater verbannte, bei den Zuschauern am besten an.
Mitgewirkt haben an den Projektionen der zwölf Monate (als Lebensstationen) und Theaterbauten von der Antike bis zur jüngsten Moderne sowie an den Theatertexten von Aristoteles bis Artaud Studenten der Fachhochschule Dortmund und des "Instituts für Computermusik und Elektronische Medien" der Essener Folkwangschule. Herausgekommen ist schließlich — zuviel und zuwenig. Die aktuelle Brisanz des Themas wird schulmeisterlich, ohne Biß präsentiert. Das Ganze muß rigoros Bestrafft werden, soll gutes, spannendes Theater daraus werden. Glücklicherweise feilt ja dieses freie Ensemble ständig an seinen Produktionen, die auch auf Reisen gehen.

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Marieluise Jeitschko
Ruhr Nachristen
 
 
Die große Neuberin lebt die Träume vieler Zeiten
Mit "Die Neuberin - Passion einer deutschen Prinzipalin packte das "Theater der Klänge" Düsseldorf im Zwickauer Gewandhaus ureigenste Probleme der Bühne an. Ein reichliches Viertel der knapp 400 Stühle in Parkett und Rang waren besetzt. Immerhin ein gewisser Erfolg, "Hochrechnungen" aus dem Vorverkauf hatten ein fast leeres Haus befürchten lassen.
Neben der Biografie der großartigen Schauspielerin und Reformatorin des deutschen Theaters stand die auch heute noch hochaktuelle Frage im Mittelpunkt: Soll das Theater ausschließlich dem Geschmack des zahlenden Publikums Rechnung tragen oder entsprechend seiner künstlerischen Aufgabe vorrangig innovatives, auch experimentelles Theater spielen?
Friederike Caroline Weißenborn, dargestellt von Kerstin Hörner, 1697 in Reichenbach geboren und in Zwiekau im Dunstkreis des despotischen, weiberfeindlichen Vaters (Clemente Fernandez) aufgewachsen, entflieht mit dem späteren Gatten Johann Neuber (Matthias Weiland) in die Freiheit – die Welt fahrender Komödianten.
Doch sie, deren außerordentliche Begabung als Schauspielerin bald erkannt und gewürdigt wird, wendet sich vehement gegen die Stücke und die Spielweise ihrer Zeit, bei der Hanswurst und Klamauk das Publikum ins Theater, und das Geld in die Kassen brachte. Nach ihrer Überzeugung sollte künstlerische Qualität die absolute Priorität vor dem Gelderwerb haben. Ihr Traum war ein deutsches Nationaltheater von hohem künstlerischen Anspruch.
Im Verlauf ihres 63-jährigen Lebens steigt sie selbst zur Prinzipalin auf. Sie bleibt über Jahrzehnte erfolgreich, umgeben von guten Freunden, geachtet bis in die oberen gesellschaftlichen Kreise. Mit Hilfe ihres Mannes setzt sie ihre Prinzipien weitgehend durch, erreicht wesentliche Verbesserung des Theaterspiels, streitet für feste Spielstätten. Sie selbst hatte drei feste Theater in Leipzig gehabt. Sie ringt für hochwertige deutsche Textbücher, für eine verständliche Sprache in den Stücken, für gute Bühnenmusik. Doch sie scheitert letztlich an der Hegemonie der männlichen Prinzipale, an Intrigen und an eigenen Fehlern, - Die Darstellung der Neuberin erfolgte nicht idealisiert, sondern mit allen Stärken und menschlichen Schwächen dieser bemerkenswerten Frau. Das gab dem Stück Glaubwürdigkeit.
Durch Wiederholen früherer Textpassagen wurde ein deutlicher Rückbezug auf die charakterlichen Veränderungen der alternden Prinzipalin hergestellt. Insgesamt ein Schauspiel, das sowohl vom Buch wie von der mimischen Umsetzung her den Beifall eines ausverkauften Hauses verdient hätte.
Die Umsetzung des umfangreichen und nicht immer einfachen Stoffes gelang dem Ensemble in bemerkenswerter Weise, Besonders die Rolle der Caroline vom jungen Mädchen bis zur alternden Prinzipalin wurde von Kerstin Hörner sehr eindrucksvoll gemeistert.
Von der Ausstattung her einfach gehalten, doch mit schönen Kostümen und einer der Heutigen angepaßten, leicht verständlichen Sprache, gestaltete sich das Schauspiel zu einem Stück erlebbarer Theatergeschichte. Sehr bemerkenswert war die musikalische Begleitung mit Adaptionen von Werken Johann Sebastian Bachs und Antonio Vivaldis, die mehrheitlich vom Band kamen, aber auch vom Musikanten und Sänger Tobias Schlierf als Originalton sehr kultiviert vorgetragen wurden.
Das Stück ist rundum neu: seine Uraufführung war erst am 7. Januar 1999 im Tanzhaus zu Düsseldorf erfolgt.
Das Theater der Klänge wurde im Mai 1987 in Düsseldorf gegründet und hat seitdem eine bemerkenswerte Reihe recht erfolgreicher Aufführungen im In- und Ausland mit hohen Zuschauerzahlen bestritten. Zum Ensemble, das selbst über keine eigene Spielstätte verfügt, gehören acht festangestellte Schauspieler. Je nach Aufführung werden bis etwa 20 Darsteller dazu als Verstärkung engagiert. Von Anbeginn arbeitet das Theater eng mit der Fachhochschule Dortmund, der Folkwanghochschule Essen und der nordrhein-westfälischen Forschungs- AG "Multimedia und Kunst" zusammen. Die Zwickauer Aufführung war die dritte einer Tournee, die in Gotha und Weimar ausverkaufte Häuser erlebte. Mit starkem Besuch hatten die Düsseldorfer auch im Zwickauer Gewandhaus gerechnet, hatte doch hier die Neuberin Impulse für ihr Lebenswerk erhalten.

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